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Frauen töten kreativer

Ein Interview von Rainer Leurs

Nur sehr selten werden Frauen zu Mördern, weibliche Killer sind Ausnahmefälle der Kriminologie. Viele davon hat die forensische Psychiaterin Sigrun Roßmanith als Gutachterin untersucht. Sie glaubt: Die dunkle Seite der Frau wird unterschätzt.

SPIEGEL ONLINE: Frau Roßmanith, in Ihrem Buch gehen Sie der Frage nach, ob Frauen die besseren Mörder sind. Und, sind sie das?

Roßmanith: Sie gehen jedenfalls kreativer vor als Männer. Einfallsreicher. Nehmen Sie den Rachefall, den ich im Buch beschreibe: Eine betrogene Frau aus Asien küsst dabei ihren Partner innig – und schiebt ihm dabei eine Zyankalikapsel in den Mund, die er schlucken muss. Sie verschränkt die Liebeshandlung mit dem Mord. Käme ein Mann auf so eine Idee?

SPIEGEL ONLINE: Schwer zu sagen. Stellen sich Frauen beim Morden womöglich auch deshalb kreativer an, weil ihnen für plumpe Gewalt die Körperkraft fehlt?

Roßmanith: Natürlich, sie müssen die fehlende Kraft ausgleichen. Oft machen sie ihr Opfer deshalb erst wehrlos – um die eigentliche Tat dann durchzuführen. Häufigstes Tatwerkzeug ist übrigens das Messer, eine europäische Besonderheit gegenüber den USA, wo Schusswaffen überwiegen. Natürlich muss man aber auch sagen, dass Frauen eher selten zu Täterinnen werden. Männer töten etwa zehnmal häufiger als Frauen.

SPIEGEL ONLINE: Ist es richtig, dass sich Tötungsdelikte von Frauen fast immer gegen Freunde oder Familienmitglieder richten, also gegen ihr engstes Umfeld?

Roßmanith: Das stimmt – das meiste sind Beziehungs- und Konflikttaten. Frauen töten selten Unbekannte. In den eigenen vier Wänden kommt es eben zu den meisten Konflikten, und die können eskalieren. Oft ist es so, dass Opfer im Rollentausch zu Täterinnen werden.

SPIEGEL ONLINE: Das sind jene Frauen, die ihre prügelnden Ehemänner im Schlaf mit der Bratpfanne erschlagen?

Roßmanith: Genau. Manche von ihnen haben zuvor ein jahrelanges Martyrium erlitten. An irgendeinem Punkt entlädt sich dann die ganze Wut, die aufgestaute Spannung; manchmal aus banalem Anlass. Die meisten Frauen werden übrigens mit einem Tötungsdelikt überhaupt zum ersten Mal straffällig.

SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Vorwort: “Niemand ist vor Wahnsinnstaten gefeit, auch ich nicht.” Warum glauben Sie das?

Roßmanith: Ich glaube, dass es in jedem Menschen eine gewisse Schwelle gibt. Wenn die überschritten wird, passieren Dinge, die man sich nie vorgestellt hätte.

SPIEGEL ONLINE: Sie nennen das die “dunkle Ecke der Seele”, die “Schattenseite der Frau”. Ist es das, was man gemeinhin das Böse nennt?

Roßmanith: Nun, das Böse speist sich daraus. Dieser Schatten ist die ungeliebte, die negative Seite der Persönlichkeit, mit all den Eigenschaften, die nicht salonfähig sind.

SPIEGEL ONLINE: Aber diese Schattenseiten sind doch keine weibliche Besonderheit. Die gibt es auch bei Männern.

Roßmanith: Natürlich! Aber bei Männern nimmt man sowieso an, dass sie potentiell gewaltbereit, brutal und egozentrisch sind. Sie müssen diese Seite nicht überdecken. Wir Frauen sollen aber so tun, als ob es das nicht gäbe. Das spezifisch weibliche Problem ist der Umgang mit dieser Schattenseite. Wird sie immer nur verdrängt und nie wahrgenommen, kann man in drastischen Momenten von dieser dunklen Kraft weggerissen werden.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es einen Fall, in dem Sie sich wiedererkannt haben, als potentielle Täterin?

Roßmanith: Ich habe selbst als Jugendliche eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung erlebt. Es hätte auch mir passieren können, dass es größere Tätlichkeiten gibt. Einen solchen Fall beschreibe ich in meinem Buch: Da wächst eine Tochter bei ihrer Mutter auf, die das Kind besonders behüten will. Mit Brachialgewalt versucht sie, ihre Erziehungsvorstellungen durchzusetzen. Das Makabere ist nun, dass das Mädchen jedes Jahr aufs Neue auf dem Markt eine Rute kaufen muss, mit dem sie das Jahr über geschlagen wird. Diese Misshandlungen erlebt sie als sehr demütigend…

SPIEGEL ONLINE: …und erhebt irgendwann die Hand gegen die Mutter?

Roßmanith: Als das Mädchen in der Pubertät ist, will es die Schläge nicht mehr erdulden. Sie packt den Hals der Mutter, drückt zu – und lässt erst los, als ihr Opfer blau angelaufen zu Boden sinkt. Das ist die klassische Situation, in der sich das Verhältnis von Opfer und Täter umkehrt.

SPIEGEL ONLINE: Gerade Delikte innerhalb der Familie sind ja oft besonders erschütternd. Gleich am Anfang ihres Buches berichten Sie von einer Mutter, die ihre beiden kleinen Kinder klaren Verstandes aus dem vierten Stock wirft.

Roßmanith: Das war ein Rosenkrieg, ein Streit ums Sorgerecht. Diese Frau wollte die Trennung von ihren Kindern unter keinen Umständen. Sie handelte nach dem Motto “Alles oder nichts”: Lieber die Kinder sind tot, als dass sie miterleben müsste, dass das Sorgerecht dem Ehemann zugesprochen wird. Das war für diese Frau undenkbar.

SPIEGEL ONLINE: Am Ende mussten Sie der Mörderin selbst klarmachen, was sie getan hatte: Ihr fehlte jede Erinnerung an die Tat, sie hatte sie verdrängt. Sind solche Filmrisse ein weibliches Phänomen?

Roßmanith: Das würde ich nicht sagen. Ich glaube, das ist menschlich. Weil die Tat mit dem Gewissen nicht vereinbar ist, man aber selbst damit weiterleben muss. Den Satz “Das war ich nicht! Das kann ich nicht gewesen sein!” höre ich von Tätern immer wieder. Man verarbeitet das sozusagen ich-fremd. Als hätte ein fremder Teil in einem selbst die Tat begangen.

SPIEGEL ONLINE: In der Öffentlichkeit ist eher selten die Rede von Mörderinnen. Sie schreiben, das habe der Feminismus bewirkt. Hätte das auch ein männlicher Autor so behaupten können?

Roßmanith: Ich glaube, das konnte ich mir nur als Frau erlauben. Aber wissen Sie, ich bin ja ein Fan des Feminismus: Er hat viel erreicht. Es hat mich nur gestört, dass Frauen immer als liebenswürdiger und weniger gewaltbereit dargestellt werden. Nach meiner Erfahrung ist das einfach nicht der Fall. Ich habe in meinem Leben oft genug erfahren, dass Frauen unglaublich hart sein können. Wie intrigant sie miteinander umgehen. Ich persönlich fürchte die Rache von Frauen viel mehr als die von Männern.