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Das Zuhause

Neulich war ich wieder einmal in meiner Heimatstadt. Es ist nichts mehr so wie es war. Alles ist umgebaut, das Straßenbild verändert. Ich habe 45 Jahre dort nicht mehr gelebt, war selten auf Besuch. Ich habe nur mehr das Grab meiner Eltern in meiner Heimat. Auch ich bin eine Fremde geworden. Scheinbar. In meinem Herzen bin ich noch immer dort zu Hause.

Wie kommt das ?

Der Kinderpsychoanalytiker Donald Winnicott (1972) benannte es: „Home is where you start from.

Hat sich also über die Jahre hinweg ein Trugbild in meine Seele eingeschlichen oder ist es eine geprägte Erfahrung, die mir Vertrautheit vorgaukelt, wo gar keine mehr ist?

Sigmund Freud (1899) fragte sich das offenbar auch: „Tief in mir überlagert, lebt noch immerfort das glückliche Kind, der aus dieser Luft, aus diesem Boden die ersten unauslöschlichen Eindrücke empfangen hatte“

Fünfundsiebzigjährig griff Freud nochmals die Gedanken auf: „Ich weiß sehr wohl, welche Fülle von Erregungen damals von mir Besitz genommen hat (…) die Sehnsucht nach den schönen Wäldern der Heimat hat mich nie verlassen“. Freud ordnete das Zuhausegefühl einer „Hilfskonstruktion“, einer Art von seelischem „Naturschutzpark“ zu. Alice Miller entzauberte mit ihrem Bahnbrechendem Buch „Das Drama des begabten Kindes“ (1979) die heilen Kindheitserinnerungen und enttarnte sie als pseudoglückliche Wunschwelt. In Wahrheit passt sich jedes Kind den Bedürfnissen der Eltern an und verliert ein Stück weit sein ureigenes Potential. Ist das Zuhausefühl also eine schön gefärbte Deckerinnerung über eine oft genug belastete Kinderzeit ?

Zuhause ist stets ein äußerer und ein innerer Ort. Die Sehnsucht nach gefühlter Ganzheit prägt diesen „Ort“. Aber nicht bei allen. Die renommierte Journalistin Coudenhove Kalergi schreibt in ihrer Autobiographie „Zuhause ist überall“. Für mich ist das nicht so. Mein Zuhausegefühl ist nicht beliebig austauschbar. Aber ich fühle mich in mir zu Hause und dieses Gefühl nehme ich überall hin mit.

Zu mir kommen viele Menschen, die unbehaust geblieben oder geworden sind oder ihr Seelen-Zuhause nicht mehr finden. Auch im Gefängnis gibt es sie. Sie werden dort eine Zeit lang Zwangsbehaust. Das wäre eine schöne Idee des Strafvollzugs, fände sie konstruktive Umsetzung.

Vor Jahren sagte mir ein seelisch kranker Patient, er wäre zu mir gekommen, zur „Besserung seiner Person“, die hätte kein zu Hause. Ob ich nicht eines hätte für ihn.

In Lebenskrisen, Panik und Realitätsverrückungen finden Menschen ihr Zuhause nicht mehr. Mitunter merken sie erstmals, dass sie noch nie eines hatten oder es immer wieder verloren. Sie fühlen sie sich leer und suchen andere, die sie füllen. Das klappt am besten in der Verliebtheit. Dem andern wird die eigene Wunschwelt übergestülpt und damit wird er eingeschleust in die vertraute Welt.

Menschen, die in sich kein Zuhause finden, borgen sich eines aus und wohnen eine Zeitlang drin. So sind sie nie allein, aber auch nie bei sich zu Hause.

Es gibt viele Unbehauste. Sie sind auf der Suche und verlieren sich ständig im Zuhause des anderen. Oder sie flüchten in Sehn-Süchte und Fata Morganas, bei denen sie es keine Ankunft gibt.

Für Martin Buber (1923) muss man zu allererst bei sich selbst zu Hause gewesen sein, um zum anderen „ausgehen“ zu können.

Das Zuhause ist stets ein innerer und ein äußerer Ort.

Aber nicht bei allen Menschen:

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